Working Memory

Autor(en): 
Jim Reed: "Working Memory", o.O., 2012

Eigentlich war mir Jim Reed durch das Projekt „200 Days, 200 Photo books“ (siehe: http://album-magazin.de/blog ) bereits per Mail-Kontakt bekannt. Aber als ich jetzt an seinem Stand auf der Offprint in Paris auftauchte, habe ich das nicht gleich kapiert. Ich war aber wahrscheinlich auch zu sehr von seinem Buch „Working Memory“ fasziniert , das da aufgeschlagen vor mir lag.

Es gab in den letzten Jahren mehrere fotografische Projekte und Bücher zum Thema Demenz. Erwähnt seien nur Peter Gansers „Alzheimer“ , Sibylle Fendts „Gärtners Reise“ oder auch Philipp Peter Wülfings mit einem BFF Förderpreis 2012 ausgezeichnete Arbeit „Alzheimer“. Und wahrscheinlich wird dieses Thema auch weiterhin in fotografischer Form präsent sein, was angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung nicht allzu überraschend ist.

 

Liebevolles Porträt

 

Aber vielleicht ist das jetzt bereits der falsche Einstieg in dieses Buch von Jim Reed. Denn eigentlich handelt es sich um ein liebevolles Porträt, eine behutsame Annäherung an einen Menschen und nicht vorrangig um die Abhandlung eines Themas mit sozialem Sprengstoff.

Dieses Buch, das eigentlich gar nicht wirklich eines ist und in Form einer Dokumentensammlung daherkommt, ist in vier Mappen gegliedert. Diese sind von ausgedruckten Fotografien mit weißem Rand geschmückt und enthalten jeweils zwischen acht und zwanzig Seiten.

Die erste Mappe zeigt ein Haus, einen Blick vom Balkon und die Türen zu zwei Apartments. Eine davon ist die Tür zu Shirley Jorjorians Wohnung. Aber zuvor gibt es noch eine Warnung, die wohl im Haus aushängt. Sie gipfelt in der Aufforderung: „Please do not invite people into your lives and/or homes until they are well known to you.“ Shirley Jorjorian tut das Gegenteil. Auf ihrer Tür heißt es mit Herzen verziert: „Hug department  Always open“.

Die Bilder der nächsten Mappe führen uns ins Innere von Shirleys Wohnung. Wir entdecken Karteikarten und Notizzettel. Aber auch Plüschtiere auf der Lehne eines Sofas, ein mit Videos und Büchern gefülltes Regal oder den Zettel mit der Auflistung der Medikamente Shirleys. Und es tauchen ihre Hände auf, welche die Fernbedienung des Fernsehers halten. Was es mit den Karteikarten und Notizzetteln auf sich haben könnte, erschließt sich durch die Vorbemerkung Jim Reeds, die sich auf einer in die Rückseite des vorderen Umschlags eingesteckten kleinen Karte befindet. Bei Shirley Jorjorian wurde eine Demenz diagnostiziert. Und das erklärt auch die Texte zu Beginn jeder Einzelmappe, die aus einem Manual zur Diagnostik von Demenzerkrankungen stammen.

 

Umschlag und Titelbild der ersten Mappe  © Jim Reed

 

Notizzettel und Karteikarten

 

Die Notizzettel und Karteikarten enthalten Aufzeichnungen Shirleys über ihren Tagesablauf, Begegnungen mit Freunden oder kleine Ausflüge in die Stadt. Dabei handelt es sich um eine Art von Selbstvergewisserung, weil auf das eigene Gedächtnis kein rechter Verlass mehr ist, das Festhalten von Momenten, die nicht verloren gehen sollen, weil sie Bedeutung für das eigene Ich haben. Und vielleicht ist das ja verdammt nahe an dem, warum so viele Fotografien entstehen: Erinnerungen an ein Zusammensein mit bestimmten Personen an einem konkreten Ort.

In der dritten Mappe schildern die Bilder und reproduzierten Blätter Shirleys Hug-Projekt. Auf den Seiten von YouTube kann man sich selber einen Einblick in ähnliche Projekte verschaffen (z.B. hier: http://www.youtube.com/watch?v=vr3x_RRJdd4 ). Shirley hat darüber richtiggehend Buch geführt und jede Umarmung akribisch vermerkt. Sogar diejenigen, die im Traum erfolgt sind. Das mag zunächst merkwürdig erscheinen, eine eigentlich spontane Geste zur Grundlage einer Sammlung von Karteikarten zu machen. Aber auch hier spielt das Bedürfnis nach Erinnerung eine Rolle und vielleicht auch die ziemlich menschliche Leidenschaft des Sammelns.

 

Doppelseite aus der dritten Mappe   © Jim Reed

 

Shirley ist einem als Betrachter dieser Bilder schon recht nahe, wenn man sie dann in der vierten Mappe zum ersten Mal auf den Fotografien wirklich sieht. Sie schaut vom Balkon, sie spielt Mundharmonika und Keyboard. Ihre Hände, die den Eisbecher fest umschlossen halten, vermeint man fast fühlen zu können. Und zugleich erzählt diese Mappe, in welcher die physische Präsenz Shirleys so spürbar ist, dann auch vom Ablaufen der Zeit (Shirley trägt an jedem Handgelenk eine Uhr) und vom Tod.

Das letzte Bild ist ein nächtlicher Blick aus dem Fenster, der das Umschlagbild der ersten Mappe wieder aufnimmt. Aber mit den ganzen Bildern im Kopf liest man die Fotografie jetzt anders, sucht nach der Anwesenheit Shirleys. Man kann einen gespiegelten Schatten erkennen. Aber so ganz sicher, ob das nun der Fotograf oder Shirley ist, kann man sich nicht sein. Ein Schatten der Erinnerung, der sich schemenhaft vor den Lichtern der Umgebung abzeichnet.

Und dann geht es doch noch weiter, man findet einen in die Mappe eingelegten transparenten Umschlag, der ein Diapositiv enthält. Beschrieben ist dieser Umschlag mit einem Gedicht von Shirley Jorjorian, das ihre Sehnsucht nach Erinnerung, Nähe und Berührung sehr schön ausdrückt. Viel hinzuzufügen ist dem nicht mehr.

 

transparenter Umschlag mit Diapositiv

 

Nähe und Emotionen

 

Was als Beschreibung in meinem Text jetzt ein bisschen umständlich und auch leblos daherkommt, das erzählt dieses Buch ganz leicht, zärtlich und poetisch in seinen Bildern und den ausgewählten Texten. Und es gibt viel mehr zu entdecken, als ich hier in den paar Zeilen schildern kann. Wer wissen will, was Shirley Jorjorian mit Cary Grant verbindet oder warum am Ende eines Fotobuchs ganz sinnigerweise der Satz "Please close your eyes" stehen kann, der muss das schon selber im Buch nachschauen.

Schöner kann es das Porträt eines zunächst fremden Menschen eigentlich nicht schaffen Nähe und Emotionen zu erzeugen. Und damit zugleich eine Erinnerung. Die mag fiktiv sein, wie es wahrscheinlich jede Erinnerung ist. Aber sie wird mich hoffentlich noch lange Zeit begleiten. Und zum Glück habe ich ja dieses wirklich wunderbare Buch, mit seiner so stimmigen Einheit der vielen Gestaltungselemente, um sie immer wieder aufzufrischen. 

 

 


 

 

 

Fakten:

 

Jim Reed: „Working Memory“, o.O., 2012

Easter Trouble Press

ohne ISBN

56 Seiten in vier Mappen,  1 bedruckter, transparenter Umschlag mit einem Diapositiv,  zahlreiche Abbildungen in Farbe, 30 cm x 23,5 cm

Auflage von 25 nummerierten Exemplaren

 

Link zu einem Video auf Vimeo:

http://vimeo.com/54113857

 

Website der Easter Trouble Press:

www.eastertroublepress.com

 

 

 


 

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Weitere Informationen

 

Inzwischen ist auf der Website des Magazins GUP ein Artikel Jim Reeds zu seinem Buch erschienen, der weiter interessante Informationen und Überlegungen zu seinem Projekt enthält. Sie finden diesen Text (und auch ein paar Bilder) auf der folgenden Seite im Internet: http://www.gupmagazine.com/blog/145-reworking-memory

Ausserdem enthält der Bericht eine gute Nachricht für alle, die aufgrund der sehr kleinen Auflage das Buch nicht kaufen konnten. Jim Reed arbeitet anscheinend an einer 2. Auflage.