Venten på i går. Auf Gestern warten

Autor(en): 
Krass Clement: "Venten på i går. Auf Gestern warten", Kopenhagen 2012

 

Es gibt auch in diesem neuen Buch Krass Clements weder einen einleitenden Essay noch ein  erklärendes Nachwort, das eine Interpretationsrichtung vorschlagen würde. Dafür steht am Beginn eine Art Prolog in sechs Bildern und der Leser bekommt nach einer zweiten Titelseite drei Wörter mit auf den Weg durch das Buch, welche ein mögliches Bezugssystem aufzeigen. Ob man dieses im Hinterkopf behält und für die Interpretation der folgenden Bildseiten nutzt, bleibt jedem natürlich selber überlassen. „Erindring, Forestilling, Virkelighed“ lauten diese drei Worte, die man mit „Erinnerung, Vorstellung, Wirklichkeit“ übersetzen könnte.

 

Aufnahmen aus mehreren Jahrzehnten

 

Aber es ist kein Zufall, wenn einem auch das oft so undurchdringliche Geflecht von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Sinn kommt. Ganz im Gegensatz zum wahrscheinlich bekanntesten Buch Clements, das in den „Kanon“ von Parr und Badger aufgenommene „Drum“, dessen Fotografien im Wesentlichen an einem Abend entstanden sind, stehen im neuen Buch Aufnahmen aus mehreren Jahrzehnten nebeneinander. In einer unglaublich virtuosen Abfolge mischen sich farbige und schwarz-weiße Bilder aus diesem Zeitraum.

Schon im Prolog gibt es Bewegung nach rechts und links, vor und zurück. Und dieser Prolog hat ewas von einer Overtüre, die schon viele der folgenden Erzählelemente kurz aufgreift: Die Farbe Rot, das glühende Licht von Straßenlaternen oder Lampen, die Vertikalen. Aber er enthält auch das Bild eines Auges, das auf den Betrachter schaut und nicht die Wartenden auf dem Bahnsteig im Blick behält. Gleich zu Beginn ein Hinweis darauf, dass im Mittelpunkt des Buches nicht die Dokumentation von Blicken auf die Welt, sondern eine sehr persönliche Befragung steht, die jeder Betrachter auf sich selber beziehen kann.

 

Doppelseite 4/5  © Krass Clement

 

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es sich um Fotografien handelt, die in Ostberlin entstanden sind. Aber „Auf Gestern warten“ lässt sich nie als melancholisches Wendeepos unerfüllter Wünsche oder gar eine Verklärung (n)ostalgischer Gefühle lesen. Obwohl die geografische und zeitliche Herkunft dieser Bilder immer wieder deutlich wird. So im Bild des Waggons der Deutschen Reichsbahn, des Reliefs Otto Grotewohls oder der Schilder mit Straßennamen.

Und genauso konkrete Abbilder der Wirklichkeit sind auch eine Fülle von Hauseingängen mit den Schildern der Hausnummern. Eigentlich fest verortet auf einem Stadtplan. Aber zugleich sehen wir dazu in einem Fall die dicht bewachsene Front eines Hausblocks. Das könnte fast eine moderne Version des Schlosses von Dornröschen sein, zu dem es keinen Zugang mehr gibt. So schnell wird aus konkreter Wirklichkeit eine vielseitig deutbare Vorstellung im eigenen Kopf.

Die vielen in die Bilder eingezogenen Vertikalen, seien es Laternenmasten, Türrahmen, gemauerte Säulen oder auch ein Baum, hindern nie den Fluss der horizontalen Bewegung in diesem Buch. Vielleicht machen sie durch diese Segmentierung der Bilder sogar noch deutlicher auf ihn aufmerksam. Aber es handelt sich hierbei nicht um eine lineare Bewegung mit Anfang und Ende, sondern um eine, die ihre Richtung auch wechselt. Dem Mann in der Oststraße begegnen wir zweimal im Buch, er läuft in unterschiedlicher Richtung. Ob und wo er dann wirklich ankommt?

 

Ein schmaler Türspalt

 

Eine der angesprochenen Vertikalen ist der schmale Türspalt, durch den der Blick auf eine Frau fällt. Wir sehen sie mehrmals in diesem Buch. Der Abstand zum Betrachter ändert sich unterdessen nicht. Vielleicht ist die Frau gerade dabei sich anzuziehen. Für mich ein Bild des Verlangens, und zugleich einer unerfüllten Sehnsucht. Es tauchen noch mehr Frauen in diesem Buch auf, manche davon zusammen mit Kindern. Aber auch als gemaltes Objekt der Begierde auf der Seitenmauer eines Bordells. Oder im offenen Bademantel.

 

Doppelseite 38/39  © Krass Clement

 

Und dann gibt es ein Bild, das die mögliche Erfüllung dieses Verlangens und dieser Sehnsucht anzudeuten scheint. Vielleicht einer der Dreh- und Angelpunkte in diesem Buch, das immer wieder so wunderbar auf andere Momente zurück oder nach vorn verweist. Das farbige Bild einer Hand, welche eine schwarz-weiße Fotografie einer nackten Frau hält. Nicht nur hier ist Krass Clements Buch zugleich ein Essay über das Sehen und die Fotografie und darüber, was das mit dem Leben zu tun hat. Verschiedenste Ebenen gehen eine wundersame Verbindung ein. Und auch hier ergibt sich kein sentimentaler Kitsch, selbst wenn das Bild von großen Gefühlen spricht. Wie die Sequenz im Buch dann weitergeht, muss man selber anschauen. Da sickert zwischen den Bildern so viel mehr an ganz erstaunlichen Momenten ein, dass sich nur schwer Worte dafür finden lassen.

 

Lust am Schauen

 

Es gibt hinreißende Seiten in diesem Buch: die pure Lust am Schauen. Aber nicht nur die Zusammenstellung von Bildern und weißen Flächen auf Ebene der Doppelseiten funktioniert mit traumwandlerischer Sicherheit.  Auch die Montage der Bilder zum komplex verdichteten Ganzen des Buches ist reich an Bezügen, Querverweisen und kurzen Geschichten. Manche davon erinnern mich an neuere Arbeiten von Paul Graham. Die Qualität der einzelnen Bilder steht außer Frage, aber so wie sie hier montiert werden, ergeben sie etwas ganz Neues.

Dabei werden nicht alle Fragen beantwortet, manches behält sein Geheimnis und bleibt rätselhaft, lässt damit aber auch Raum für eigene Träume und Bilder. Dafür steht vielleicht das erste Bild nach dem Prolog und den drei Einleitungsworten. Das Bild einer großen, unbeklebten und unbeschrifteteten Plakatwand hinter einem Zaun mit Stacheldraht. Keine sozialistischen Slogans und auch nicht, wie auf einem später im Buch folgenden Bild eines Hauses, der plakatierte Tapetenwechsel als Kaufanreiz für eine Immobilie. Stattdessen nur die Strukturen von Pressspanplatten, die eine Projektionsfläche bilden könnten.

Es kommt die Zeit der Jahresrückblicke und Bestenlisten. Viel Sinn machen solche Ranglisten vielleicht nicht. Aber Krass Clements Buch ist mein ganz persönliches „Buch des Jahres“.

 

 


 

 

Fakten:

 

Krass Clement: „Venten på i går Auf Gestern warten“, Kopenhagen, 2012

Gyldendal

ISBN: 978-87-02-13051-5

136 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe und S/W, 28 cm x 23,5 cm

 

 

Website von Krass Clement :

www.krassclement.com