My Lovely Bosnia

Autor(en): 
Christian Schwager: "My Lovely Bosnia", Zürich, 2007

 

Eine blühende Frühlingslandschaft mit frischen, gesättigten Grüntönen, dazu die beschwingt geschwungene, rote Schrift des Titels „My Lovely Bosnia“. Was folgen könnte, wäre ein erholsamer Spaziergang durch eine romantisch angehauchte Landschaft. Aber vielleicht lässt das Cover des Buchs mit dem am linken Bildrand angeschnittenen Häuschen mit der etwas rostigen Regenrinne doch schon ahnen, dass da noch irgendetwas anderes lauert.

 

Blick hinter die Oberfläche

 

Ein bisschen genauer hinter die Oberfläche der Bilder muss man bei den Fotografien Christian Schwagers (geb. 1966) immer schauen. Das ist ähnlich bei seinem Buch „Falsche Chalets“, in dem sich die abgebildeten, vermeintlich so wohlvertrauten Bauten nicht als Feriendomizile erweisen, sondern als militärische Anlagen entpuppen.

Und so stellt sich auch im Fall von „My Lovely Bosnia“ bald heraus, dass es nicht nur um liebliche Landschaftsaufnahmen geht. Schon zwischen den beiden Titelseiten zeigt das erste Bild eine asphaltierte Strasse mit seitlichem Bewuchs unter blauem Himmel. Alles ganz normal, wenn nicht in den folgenden Bildern ein Schwenk in Richtung auf den harmlos ausschauenden Pfosten mit den Plastikbändern erfolgen würde. Und dann tauchen vor dem grünen Unterholz auf einer komplett gerodeten Fläche plötzlich lauter kurze Stümpfe von Bäumchen und Gebüschen auf. Wie der folgende Text knapp berichtet, handelt es sich um eine verminte ehemalige Frontlinie, die gerade gesäubert wurde.

In einem Text auf seiner Website (vgl. die unten aufgeführten Links) weist Schwager mehrmals darauf hin: „Der Titel ist nicht ironisch oder zynisch gemeint, er kommt von Herzen“. Aber gleichzeitig verschweigt der Fotograf nicht die Realität hinter den Bildern, auch wenn er auf jegliche direkte Bebilderung des Horrors verzichtet, der sich in diesen Landschaften abgespielt hat. Wahrscheinlich ist sich Schwager zu sicher, dass Bilder diesen sowieso nicht adäquat zeigen könnten.  

 

Doppelseite 28/29   © Christian Schwager

 

"Unvermögen der Fotografie"

 

„Und ich spreche über das Unvermögen der Fotografie, auch der dokumentarischen Fotografie, die Wahrheit, oder die ganze Wahrheit zu zeigen. Die Büsche, das Unterholz, das Dickicht müssen hier anders gelesen werden als in der Schweiz. ... Die Fotografie genügt nicht, sie braucht eine Erklärung, eine Legende. Und diese gibt dem Betrachter eine zweite Ebene, die er mit der Fotografie in seinem Kopf verbinden muss, imaginieren muss.“ (Zitat aus dem Text des Fotografen von der unten aufgeführten Website)

So ist bei diesen Bildern des Fotografen wahrscheinlich genauso wichtig, was nicht direkt auf ihnen zu sehen ist. Die Dinge, von denen nur der knappe Text Schwagers spricht: Da lernt man, was ein „sekundäres Massengrab“ ist, und erfährt Zahlen über durch Minen verletzte und getötete Menschen. Es ist die Rede von der Bergung einer Leiche aus einer Latrinengrube und vom Prozedere bei der Exhumierung von im Waldboden gefundenen menschlichen Körpern.

Was sichtbar wird, sind die mit den „Aufräumarbeiten“ beschäftigten Menschen, die umgegrabenen Erdhäufen, das zurückgelassene Band der Polizeiabsperrung, das Täfelchen auf dem Boden mit den kryptischen Informationen über das, was an diesem Ort gefunden wurde. Und immer wieder Feld-, Wald- und Wiesenwege durch eine eigentlich ganz alltäglich erscheinende Landschaft.

 

Doppelseite 32/33   © Christian Schwager

 

Gestaltet wurde dieser Band N°63 der Edition Patrick Frey von Hanna Williamson-Koller. Alle der durchgängig ganzseitigen Abbildungen sind mit einem weißen Rand versehen. Trotzdem wird innerhalb der einzelnen Bildgruppen eine starke Verbindung zwischen den Fotografien erzeugt. Zum Beispiel durch über mehrere Bilder durchlaufenden Linien (das Band zur Absperrung und Markierung noch nicht entminter Gelände; die durch die Erdhäufen gebildete Linie des Horizonts), die eine fast panoramahafte Bildwirkung auf den Doppelseiten und einen Quasi-Schwenk über mehrere Seiten ergeben.

 

Gedichte in drei Sprachen

 

Ergänzt werden die Bilder und kurzen Erläuterungen Christian Schwagers durch Gedichte, welche zwischen die einzelnen Bildgruppen geschoben sind. Die Texte in kroatischer, bosnischer und serbischer Sprache werden ins Englische und Deutsche übersetzt, wie überhaupt der ganze Band dreisprachig gestaltet ist. Vervollständigt werden diese Texte durch Dragoslav Dedovićs „Niederschrift über den Ort, an dem ich nie war“.

Nach dem Lesen des Buchs hat das so unschuldig wirkende Bild vom Cover eine ganz andere mögliche Bedeutung. Sind die braunen Erdflecken vor dem Häuschen gar nicht einer geselligen Runde um einen Tisch, sondern der Grabung nach einer Leiche zu verdanken? Ist der frisch gepflügte Acker am rechten Bildrand womöglich der Ort eines grausamen Unfalls mit einer vergessenen Mine? Was mag sich rund um die Häuser Mitte der 1990er Jahre abgespielt haben? Um zum Abschluss Dragoslav Dedović zu zitieren: „Uns, den Menschen aus diesem Land, wurde durch das Verbrechen auch die Unschuld der inneren seelischen Landschaft genommen.“

 

 


 

Fakten:

 

Christian Schwager: „My lovely Bosnia“, Zürich, 2007

Edition Patrick Frey

ISBN: 978-3-905509-63-2

160 Seiten, 132 ganzseitige Abbildungen, 21,5 cm x 26,5 cm

 

Website des Fotografen: www.christianschwager.ch

 

Dort findet sich unter anderem das „Tagebuch der Reise nach Bosnien zur Buchpräsentation im November 2007“ unter folgendem Link : http://www.christianschwager.ch/texte/MLB_Tu_S.pdf

 


 

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"Minescape" von Brett van Ort

 

Jetzt ist ein neues Buch erschienen, das sich mit den minenverseuchten Landschaften Bosniens beschäftigt. Unter dem Titel "Minescape" versammelt der Fotograf Brett Van Ort Bilder romantischer Landschaften, die mit Großaufnahmen von Minen und Prothesen kontrastiert werden. Wer einen Blick auf diese Arbeit werfen mag, findet unter dem folgenden Link auf der Website des Fotografen ein Video: http://www.brettvanort.com/minescape-book

Brett Van Ort: "Minescapes", Daylight Books, 2013,  ISBN: 978-0-9832316-6-0