und ein fremdes Mädchen

Autor(en): 
Michael Mauracher: "und ein fremdes Mädchen", Leipzig 2009

 

Die Arbeit mit „gefundenen“ Fotografien (u.a. Postkarten, Reproduktionen aus diversen Publikationen, Material von Flohmärkten) oder die Verwendung alter Familienfotografien ist kein ungebräuchliches Vorgehen für so manchen, der sich daran macht ein Fotobuch zu erstellen. Michael Mauracher (geb.1954), inzwischen Honrarprofessor für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, mischt für sein Buch „und ein fremdes Mädchen“ vorgefundenes Material mit eigenen Fotoarbeiten. Im Zusammenklang entsteht so eine faszinierende "Erzählung" mit biografischem Bezug auf die verzweigten Familien seiner Vorfahren.

 

Familiengeschichte in zwölf Kapiteln

 

In zwölf Kapiteln ordnet Mauracher das überlieferte, gesammelte und selber fotografierte Material. Am Beginn stehen Bilder, welche den Heimatort Hippach im Zillertal, das ursprüngliche Haus der Familie und die Familienmitglieder selber zeigen. Ein Stammbaum eröffnet dem Betrachter die Möglichkeit, etwas genauer ins Geflecht der verschiedenen Familien einzudringen, eine Ordnung in die Porträtfotografien zu bringen. Im weiteren Verlauf des Buchs spielen in eigenen Kapiteln der Erste Weltkrieg ("mit Gott für Kaiser und Vaterland") oder auch die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg ("ihr werdet ja immer am Radio sein") eine Rolle, ebenso wie Wallfahrten nach Rom, Jerusalem und Lourdes ("es ist alles dürr") .

 

Erzählt wird mit den abgebildeten Fotografien zum einen die ganz persönliche Familiengeschichte. Zugleich ist aber auch die Bedeutung von fotografischer Dokumentation für diese Familie ein Thema. Und ausserdem lässt sich als Subtext eine Geschichte der verschiedenen Präsentationsformen des Mediums Fotografie mitlesen, eine (wenn auch sicherlich nicht vollständige) Darstellung der möglichen fotografischen Erzähl- und Dokumentationsformen. Und die reicht von klassischen, beim Fotografen erstellten Porträts und Gruppenaufnahmen bis zu den quasi konzeptionellen Anklängen in den Fotografien Michael Maurachers. In diesem Zusammenhang ist mir besonders eindrücklich das fünfte Kapitel "die Stühle", in welchem Mauracher seine Ahnen porträtiert, indem er "ihre" Stühle abbildet. Im letzten Kapitel "zur frommen Erinnerung" stehen Sterbebilder von Familienanghörigen und die Fotografie eines in der Wohnstube aufgestellten Sargs. Der Tod, hier als Auslöser für das Erzählen über Verstorbene unter Zuhilfenahme von Fotografien.

 

Tableauartige Präsentation der Bilder auf ausgeklappten Seiten

 

Das fotografische Material für das Buch gruppiert Mauracher tableauartig auf ausklappbaren Seiten, welche eine Vervierfachung der Seitenfläche  und damit eine variantenreiche und großzügige Präsentation der Bilder erlauben. Zugleich lässt sich im Vorgang des Aufklappens, mit der zunächst sichtbaren Kapitelüberschrift und der darauf folgenden Doppelseite mit Grafik und Bild(ern), jeweils der nächste Erzählschritt einleiten. Mauracher verwendet die Originalbeschriftungen der Fotografien, sowie sparsam eingefügte eigene Kommentare und Erläuterungen.

 

Wem das als Erklärung für die Konstruktion des Buchs jetzt zu verwirrend war, dem sei ein Blick auf die Internetseiten der für die Gestaltung des Buches verantwortlichen Janine Thaler empfohlen. Hier kann man sich ein ganz gutes Bild vom Aufbau des Buchs machen: http://www.sehsam.de/pages/referenzen/buchgestaltung/michael-mauracher-und-ein-fremdes-maedchen.php

 

Prosatext von Josef Haslinger

 

Eingesteckt in eine Lasche auf der vorderen Innenseite des Einbands enthält das Buch  in einem Beiheft die Erzählung „Südbahnhotel“ von Josef Haslinger. Dieser Prosatext hat keinen direkten Bezug zum für das Buch ausgewählten fotografischen Material und der Familiengeschichte Maurachers. Aber indem dort die Spur einer Geschichte gelegt wird, deren wirkliche Hintergründe und Geheimnisse  für den Leser verborgen bleiben, lässt sich die Haltung von Haslinger und Mauracher als Erzähler vielleicht doch ganz gut vergleichen.

 

Für den Leser und Betrachter wird in beiden Fällen nicht alles erklärt und aufgelöst. Das Geschehen erscheint deutlich greifbar und doch unfassbar zugleich. So wie bei einem Selbstporträt Maurachers seine Gestalt aufgrund einer Doppelbelichtung nur schemenhaft zu erahnen ist. Oder wie auf einer der Fotografien aus einem Album Maurachers zwischen ihm und seiner Schwester ein „fremdes Mädchen“ auftaucht, das dem Buch schließlich seinen Titel gab.  Ob man von den mit Namen und Lebensdaten aufgeführten Personen auf den Bildern im Buch am Ende wirklich mehr weiß, bleibt fraglich. So klar die Bilder der Familienangehörigen vor dem Betrachter stehen, die Porträtierten geben ihre Geheimnisse nicht eigentlich preis. Zumeist ist das Erzählen mit Fotografien eben nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheint. Aber zumindest im Fall des vorliegenden Buchs erhöht das die Faszination des Betrachters noch.

Das Rätsel um die etwas geheimnisvolle Abbildung auf dem Cover löst Mauracher übrigens auf. Es handelt sich um das Detail einer Fotografie, die einen Priester mit seiner Primizbraut zeigt. Und um einen weiteren der zahlreichen, verzweigten Erzählstränge in Michael Maurachers wunderbarem Buch.

 

 


 

 

Fakten:

 

Michael Mauracher: „und ein fremdes Mädchen“, Leipzig, 2009

Institut für Buchkunst Leipzig

ISBN: 978-3-932865-53

12 Kapitel mit aufklappbaren, tableauartigen Seiten, 104 Abbildungen, 26,5 cm x 20 cm

Auflage von 750 Exemplaren

 

Website des Instituts für Buchkunst Leipzig: www.institutbuchkunst.hgb-leipzig.de/