Egg Hunt

Autor(en): 
Jim Reed: "Egg Hunt", 2014, Easter Trouble Press
Es mag seltsam scheinen, zu Weihnachten ein Buch zu besprechen, dass übersetzt „Ostereiersuche“ heißt. Aber das Buch passt genau zu diesem Familienfest, dem Termin im Jahr, der immer noch am stärksten geprägt ist von der Sehnsucht nach einer heilen Familienwelt. Für Jim Reed (geb. 1984) ist der Kristallisationspunkt der glücklichen Familie aber nicht die Erinnerung an die Weihnachtsfeste, sondern sehr spezifisch eine Fotografie des Ostersonntags 1986. Dabei handelt es sich um das letzte Bild, das seine glücklich vereinte Familie zeigt.
 
 
Dieses Bild nimmt er zum Ausgangspunkt für eine Reise auf den Spuren seines Vaters, der kurz nach diesem Ostersonntag durch einen psychischen Zusammenbruch sich selber und der Familie verloren ging. Die Fahrten führen Jim Reed u.a. nach Florida in ein Anglercamp, das seine Eltern eine Zeitlang verwalteten. Aber auch in eine Obdachlosenunterkunft und eine frühere Klinik, in der sein Vater behandelt wurde. Er nimmt Kontakt mit Personen auf, die sich noch an seinen Vater und die Familie erinnern können, sammelt Fetzen von Erinnerungen, die sich teilweise aber auch im Vagen auflösen und verlieren.
 
 
„A catalogue of attempts to find my father, who died in 1989“, so lautet der Untertitel der Publikation und so steht es mit Farbe im Innenteil der Mappe, welche die von Hand genähte Editionsausgabe des Buches birgt. 
 
 
Egg Hunt ist dabei mehr als ein Fotobuch: Es beinhaltet Reproduktionen von Texten und auch Zeichnungen. Abfotografierte alte Familienbilder wurden mit Ostereierfarben übermalt. Ein schönes Symbol für die nachträgliche Einfärbung der Erinnerungen, die Überlagerung durch neue Schichten, die manchesmal das ursprüngliche Geschehen nicht mehr erkennen lassen. Und die Arbeit umfasst auch eine Audiodatei, die Besitzer des Buches aus dem Internet herunterladen können. Man sollte das unbedingt tun, denn das subtile Zusammenspiel zwischen der Reise der Augen und der Ohren erschließt einem manche Seiten des Buches ganz neu. Und wer zum Buch die Audiodatei anhört, dem wird noch deutlicher, dass es sich bei Egg Hunt um eine Arbeit handelt, die als Film ein Roadmovie wäre. Dieses sehr amerikanische Genre ist hier mit sparsamen Mitteln, aber überzeugend umgesetzt.
 
 
Jim Reed hält in seinem Buch immer die Balance, so dass seine Geschichte weder ins Rührselige abrutscht, noch zur für den außenstehenden Betrachter unverdaulichen Nabelschau gerät. So ist dies ein sehr genauer Blick auf das, was Erinnerungen ausmacht, und auf das, was sie mit einem machen, und auf das, was der eigene Kopf mit ihnen macht. Insofern passt dieses Buch auch sehr gut zusammen mit Jim Reeds „Working Memory“, seiner Publikation, in deren Mittelpunkt die von Demenz betroffene Shirley Jorjorian steht (vgl. hierzu meinen Text zum Buch der Woche). 
 
 
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich dieses Buch gerade jetzt vorstelle. Da zur Zeit ja alle möglichen Listen mit den Büchern des Jahres aufgestellt werden, wollte ich „mein“ Buch des Jahres nicht verschweigen. Keine andere Publikation hat mich dieses Jahr so sehr berührt wie Egg Hunt. 
 
 

 

Fakten:

 
Jim Reed: „Egg Hunt“, Frankfurt/Main 2014
Easter Trouble Press
ohne ISBN
120 Seiten, 25,5 cm x 18,5 cm, 
 
Auflage von 25 nummerierten und signierten Exemplaren in grüner Mappe, inkl. handbemaltem Print in Etui und handgeschriebenem Text auf der Innenseite
 
Auflage von 100 nummerierten und signierten Exemplaren in grünbezogenem Karton
 
 
weitere Informationen zur Publikation finden Sie in einem Interview mit Jim Reed auf den Seiten von feature shoot
 
Informationen zu weiteren Publikationen von Jim Reed finden sie auf den Seiten seiner Easter Trouble Press