Komm, mein Mädchen, in die Berge

Autor(en): 
Andrea Stultiens: "Komm, mein Mädchen, in die Berge", Berlin 2008

Bei meinen Besuchen auf Flohmärkten schaue ich in den letzten Jahren auch verstärkt nach Alben mit Originalfotografien. Und es überrascht mich immer wieder, wie sehr einen die dort in Bildern auszugsweise gesammelten Fragmente fremden Lebens berühren können. In manchen Glücksfällen sind diese Bilderalben sehr konzentriert gestaltete kleine Kunstwerke von erstaunlicher Geschlossenheit. Das Schöne an den von ihnen erzählten Geschichten ist dann trotzdem, dass für Phantasien und eigene Vorstellungen des Betrachters normalerweise viel Raum bleibt. So entpuppt sich manchmal das Fehlen eines Kontexts als Vorteil.

Im Falle des Bilderfundus, den Andrea Stultiens für das Buch „Komm, mein Mädchen, in die Berge“ nutzte, lag ein ziemlich umfassendes Konvolut von originalen Farbdiapositiven vor. Aus mehreren tausend Aufnahmen, kondensierte sie durch strenge Auswahl die Geschichte eines Paares und seiner Urlaubsausflüge in die Berge. Zahlreiche weitere Landschaftsaufnahmen dieser Reisen hätte Stultiens zur Verfügung gehabt, aber sie konzentrierte sich streng auf die Aufnahmen, welche die beiden Protagonisten gemeinsam auf mit dem Selbstauslöser aufgenommenen Bildern zeigen.

Verlag für Bildschöne Bücher

Diese 40 Aufnahmen bilden das Kernstück des Buches „Komm, mein Mädchen, in die Berge“, das 2008 im Verlag für Bildschöne Bücher erschienen ist. Auffallend ist, dass sich die von Andrea Stultiens D. und G. genannten Personen auf fast allen dieser Bilder berühren. Da liegt der Arm des Mannes über der Schulter der Frau oder ihre Hände halten sich, während sie nebeneinander auf Liegestühlen posieren. Das mag für die enge Verbindung dieser beiden sprechen. Zugleich erscheinen sie von anderen Menschen isoliert, da diese, ausser auf einem Bild, in dem zwei Personen im Hintergrund durch die Landschaft huschen, schlicht nicht vorkommen. Die zwei scheinen sich selbst zu genügen. Obwohl die Berge auf den ausgewählten Bildern dann doch eine entscheidende Rolle spielen. Durchaus komplex arrangiert sind viele dieser Fotografien. Da stehen nicht einfach zwei Personen im Vordergrund herum, um den Beweis der Anwesenheit vor Ort zu führen, wie auf so vielen touristischen Fotos von Sehenswürdigkeiten. Stattdessen wird die Landschaft zur manchmal ausgesprochen kunstvoll inszenierten Bühne für den Auftritt des Paares.

Box der Editionsausgabe mit innenliegendem Buch

 

Eingefasst ist die Abfolge dieser 40 Bilder, die einen Zeitraum von vielleicht 30 Jahren umfasst, in drei Bilder, die von diesem Schema der Inszenierung des Paares in der Gebirgslandschaft abweichen. Zu Beginn sieht man die beiden (wahrscheinlich zuhause) mit ihrer Wanderausrüstung, die man im nächsten Bild als Stillleben mit Rucksack, Stiefeln, Pickel und Seil näher betrachten kann. Und ganz am Schluss des Buches steht ein zweites Stillleben, das kleine Skulpturen zeigt: neben Adler, Pferd und einer Kanne auch ein übereinander angeordnetes Paar in Tracht. Da ist die Zeit der Ausflüge ins Gebirge, deren Ende sich in den Bildern durch das Altern der Protagonisten schon länger andeutet, vorbei. Zuletzt haben sie eher vor Taldörfern als auf Gipfelhöhen ihre gemeinsamen Bilder gebaut. Was bleibt sind Erinnerungen.

Der Titel des Buches ist im Übrigen die erste Zeile eines Gedichts von Georg Herwegh von 1843. Das bleibt aber nicht die einzige literarische Komponente, denn Stultiens fügt zum Abschluss noch einen kurzen Text von William Wordsworth aus dem Jahr 1790 ein, der ein wenig wehmütig über die Erinnerung an Vergangenes spricht. Nach Betrachtung der Bilder erweckt er fast den Anschein, für dieses Buch geschrieben worden zu sein.

Geschichte hinter den Bildern

In einem in der FAZ vom 21.03.2009 erschienen Artikel geht Melanie Mühl der Geschichte hinter den Bildern nach. Und ihre Recherche führt denn auch zu den beiden Protagonisten dieses wunderbar in der Schwebe gehaltenen Buches, das seine Geschichte so klug erzählt, dass immer genügend Raum für eigene Bilder des Betrachters bleibt. Vielleicht ist es also besser, die in der FAZ erzählte, andere Geschichte des Paares gar nicht zu kennen. Wer sie aber erzählt bekommen möchte, kann sie selber kostenlos in den Weiten des Internets finden oder gegen Bezahlung ganz einfach aus dem Archiv der FAZ herunterladen. Aber auch Melanie Mühl erzählt dort bewusst nicht die ganze Geschichte.

Auffällig bei diesem Buch ist, dass auf verschiedene Weise die Materialität der originalen Dias, des fotografischen Ausgangsmaterials thematisiert wird. Zum einen wurden bei der Reproduktion der Aufnahmen die durch die eingeglasten Diapositive entstehendenden Newtonschen Ringe nicht beseitigt. Sie sind auf manchen der Bilder deutlich zu erkennen. Vielleicht eine kleine Reminiszenz an frühere Diaabende, die ihre schillernden Höhepunkte díesem Effekt verdankten. Zum anderen sind die zunächst einfach schwarz erscheinenden Seiten, welche den Abbildungen auf den Doppelseiten gegenüberstehen, nicht wirklich schwarz. Wer ein bisschen genauer hinschaut, erkennt, dass sich da das nächste Bild schon seitenverkehrt abzeichnet. Ein Effekt, so ähnlich, wie wenn man ein Diapositiv aus ganz steilem Winkel betrachtet. Und drittens verweist natürlich auch die eigentümliche Farbigkeit der Bilder bereits auf ihre Herkunft.

Limitierte Edition

Neben der normalen, inzwischen vergriffenen Buchhandelsausgabe, erschien auch eine auf 42 Exemplare limitierte Edition. Dann liegt das Buch in einer schwarzen Box, in deren Deckel mit magnetischem Verschluss, jeweils eines der Originaldias inkl. Rahmen eingepasst ist. Auf dem Innendeckel der Box sind diese Exemplare nummeriert und von Andrea Stultiens signiert. Aber auch diese Beschriftungen lassen sich, wie die „quasi-latenten“ Zweitbilder im Buch, nur bei geeignetem Betrachtungswinkel und passender Beleuchtung wirklich erkennen. Das Buch kann mithilfe eines mit dem Buchtitel bestickten, rot-weißen Bändchens leicht aus der Box herausgehoben werden. Details wie dieses zeugen von der liebevollen Gestaltung der Edition. Das Buch wurde im Übrigen von Andrea Stultiens in Zusammenarbeit mit Vivi-Ann Sigernes gestaltet und 2009 mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber ausgezeichnet.

Innendeckel der Edititionsbox mit Diapositiv, Nummerierung und Signatur

 

Der Umschlag des Buchs fügt der Geschichte des Paars eine weitere Variante hinzu. Vorder- und Rückseite zeigen jeweils nur sie bzw. ihn. Aber selbst da ist die Verbindung zwischen beiden bei genauerer Betrachtung dann doch sichtbar. Ihre Jacke (?) liegt hinter dem Arm, mit dem er sich aufstützt, neben der seinen.

Einband Rückseite Einband Vorderseite

 

In ihrer kurzen Einleitung, wie der Text von William Wordsworth in deutscher und englischer Sprache abgedruckt, schreibt Andrea Stultiens: „Ich habe ihr Leben auf das reduziert, was der Kern ihrer Existenz zu sein scheint: die Fotos auf denen beide abgebildet sind und auf denen die Berge ihr Theater und die Kamera ihr Publikum sind. Das mag wenig erscheinen, doch es kann sehr viel sein.“ Jetzt gehört jeder Betrachter des Buches zum Publikum zweier Protagonisten, die schon lange nicht mehr existieren.

 


 

Fakten:

 

Andrea Stultiens: „Komm, mein Mädchen, in die Berge“, Berlin, 2008

Verlag für Bildschöne Bücher

ISBN: 978-3-93918116-3

96 Seiten, 43 Abbildungen in Farbe + 40 quasi „teil-latente“ Abbildungen, 14,5 cm x 20,5 cm

Edition in Klappbox mit Originaldia, nummeriert und signiert von Andrea Stultiens, Auflage: 42 Exemplare

 

Video mit Bildern und der Stimme von Andrea Stultiens

 

Website von Andrea Stultiens unter www.andreastultiens.nl