Der beobachtete Betrachter

"Der beobachtete Betrachter", Kunsthalle Mannheim, 1989

 

Ein Zitat von Marcel Duchamp ist dem Ausstellungskatalog der Kunsthalle Mannheim vorangestellt: „Man kann Sehen sehen, man kann Horchen nicht hören.“ Menschen beim Sehen zuzuschauen, darum geht es in den hier gezeigten Fotografien im Band „Der beobachtete Betrachter“, einer Produktion zum 150jährigen Jubiläum der Fotografie. Zumeist betrachten diese von Fotografen beobachteten Menschen Kunstwerke in Ausstellungen. Nur einmal handelt es sich um Fotografien, die im Mittelpunkt ihres Interesses stehen, zumeist beschauen sie Gemälde und Skulpturen. Und letztere stehen wiederholt auch im Freien, als Kunst am Bau oder auf öffentlichen Plätzen.

Tierisch ernst nehmen die Ausstellungs- und Katalogmacher dieses Thema in ihrer Bildauswahl nicht. So findet sich auch ein in seine Zeitung vertiefter Leser, dem die Statue im Park als Mitleser über die Schulter zu schauen scheint, quasi eine Umkehrung der Rollen. Auch die beiden auf dem rückwärtigen Einband abgebildeten Fotografien, darunter die berühmte Aufnahme Robert Doisneaus vom Ehepaar mit den so ungleichen Interessen vor dem Schaufenster der Galerie, setzen eher auf eine leicht humoristische Variante des Themas.

 

Rückseite des Buchcovers

 

Lust am Schauen

 

Aber bei aller Lust am Schauen, die offensichtlich dem Betrachter von Katalog und Ausstellung gegönnt wird, besitzt diese Zusammenstellung von Fotografien auch Tiefgang. Das machen die drei begleitenden Texte, die am Beginn des Katalogs abgedruckt sind, ebenfalls deutlich. Friedrich W. Kasten, von dem auch ein kurzes Vorwort stammt, erweitert in seinem Essay „Anmerkungen zur Archäologie des beobachteten Betrachters“ den Blick auf durch Maler, Lithografen, Karikaturisten und (Comic)Zeichner beobachtete Personen, fragt sich aber ebenso, wie Besucher eines Doms im 14.Jhdt. diesem Kunstwerk begegnet sein mögen. Nebenbei erfährt man als Leser in den begleitenden Bildern z.B. wie in früheren Zeiten Kunstausstellungen gehängt wurden.

Martin Stather beschränkt sich in seinen „Anmerkungen zum Bildtopos des beobachteten Betrachters“ auf die Analyse von Fotografien, obwohl er zunächst auf die Wechselwirkung zwischen Malerei und Fotografie eingeht. Roland Scotti schließlich widmet sich in seinem Text der durchaus komplizierten Wechselwirkung zwischen dem Verhalten von Betrachter und Betrachtetem und zeigt Beispiele, die eine Fülle von möglichen Reaktionen aufs „fotografiert werden“ schildern. Alle drei Texte sind mit zahlreichen Abbildungen illustriert, auf die immer wieder explizit Bezug genommen wird.

 

Evelyn Richter

 

Einen zentralen Raum im Tafelteil des Katalogs nehmen die Arbeiten Evelyn Richters zum Thema ein, welche auf zehn Seiten hintereinander abgebildet sind. Übrigens gibt es zu ihrem diesbezüglichen Werkkomplex inzwischen eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit, die auch in Buchform publiziert vorliegt: Susann Scholl: „Evelyn Richter. Die Fotografien zum Thema "Ausstellungsbesucher" im Kontext der Kulturpolitik der DDR“, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008.  Dort lassen sich neben dem Text Susann Scholls auch eine Vielzahl von Richters Aufnahmen zum Thema finden.

Ganz zum Schluß des Bildteils geht es dann aus den "Heiligen Hallen" der Ausstellungsräume an einen Ort, der geradezu sinnbildlich fürs voyeuristische Schauen steht: die Reeperbahn. Eine Fotografie von Gerhard Vormwald dreht die Situation des Betrachtens um: Plötzlich sieht sich der Leser des Buches von einer Person beobachtet, die ein Auge verdeckt und selber nicht das Bild zur Werbung für eine Sex-Show betrachtet, das dem Leser von der rechten Bildseite ins Auge springt.

 

Kurzweilige Zusammenstellung

 

Der Katalog, dessen Texte sich aufgrund der engen Blockbildung ohne wirkliche Absätze nicht ganz einfach lesen lassen, enthält schließlich noch zwei Seiten mit kurzen Biografien und Literaturhinweisen zu 21 der FotografInnen. Ganz optimal ist die Druckqualität der Abbildungen nicht, aber das mindert das Vergnügen, das einem das Durchblättern der Seiten bereitet, nur wenig. So ist das Ganze eine kurzweilige Zusammenstellung, die nicht nur regelmäßigen Ausstellungsbesuchern gefallen dürfte.

 

 


 

Fakten:

 

„Der beobachtete Betrachter“, Mannheim 1989

Mannheimer Kunstverein

ISBN 3-926857-07-2

128 Seiten, Tafelteil mit 69 S/W Abbildungen, weitere 48 Abbildungen im Textteil, 24 cm x 22 cm

 

Texte von Friedrich W. Kasten, Martin Stather und Roland Scotti

 

Tafelteil mit Fotografien von Abbas, Alecio de Andrade, Associated Press, Heinrich von der Becke, Christian Borchert, Helga von Brauchitsch, Rene Burri, Henri Cartier-Bresson, Rudolf Dietrich, Robert Doisneau, Ali Fluw, Martine Franck, August Hahn, Rolf Dieter Heggemann, Hans Peter Heinrichs, Ralf Herzig, Josef Koudelka, Richard Kalvar, M. Langer, André Morain, Herbert Peterhofen, Evelyn Richter, Harald Schmitt, Cajus Seyfried, Gerhard Vormwald, Paul Wegener, Sabine Weiss, Heinrich Wetter, Patrick Zachmann und unbekannten FotografInnen

 

 


 

Friedrich W. Kasten (Hrsg.)
Katalog: "Der beobachtete Betrachter", Einband vorne