"Die Geburtsstunde der Fotografie - Meilensteine der Gernsheim-Collection"

"Die Geburtsstunde der Fotografie - Meilensteine der Gernsheim Sammlung"

 

In Mannheim gibt es momentan die wahrscheinlich für lange Zeit einzige Chance, die erste Fotografie der Welt zu bestaunen, ohne eine Reise nach Texas antreten zu müssen. Obwohl man über die Bezeichnung „erste Fotografie der Welt“ natürlich diskutieren kann. Die Ausstellungsmacher verwenden daher teilweise auch den Terminus „älteste erhaltene Außenaufnahme“. Es handelt sich um Joseph Nicéphore Niépces Aufnahme aus dem Jahr 1826, die unter dem Namen „Point de vue du Gras“ oder „Blick aus dem Fenster in Le Gras“ firmiert.

 

Blick aus dem Fenster in Le Gras
Joseph Nicéphore Niépce, 1826
(Reproduktion Helmut Gernsheim)
© Reiss-Engelhorn-Museen, Forum Internationale Photographie

 

 

Die meisten werden dieses Bild schon mal in einem Buch über die Geschichte der Fotografie gesehen haben. Die Ausstellung in Mannheim weist darauf hin, dass die verbreiteten Reproduktionen dieser Fotografie alle mehr oder weniger stark bearbeitet wurden. Gezeigt werden neben dem Original mehrere dieser Wiedergabeversuche. So retuschierte Gernsheim die zusammen mit der Firma Kodak erzielten Ergebnisse in stundenlanger Arbeit mit Wasserfarben. Das Original lässt je nach Blickwinkel und Lichteinfall weitere Details erahnen und zeigt, dass in diesem Fall, wie auch bei Daguerreotypien, die herkömmlichen Druck- und Wiedergabeverfahren an ihre Grenzen stoßen.

 

Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Helmut Gernsheim

 

Die Ausstellung in den Reiss-Engelhorn Museen in Mannheim zeigt jetzt anlässlich des bevorstehenden hundertsten Geburtstags von Helmut Gernsheim zum einen Werke aus dem insbesondere den ersten 100 Jahren der Fotografiegeschichte gewidmeten Teil der Sammlung. Dieser ist seit 1963 im Harry Ransom Center der University of Texas in Austin beheimatet. Zum anderen ist fast gleichwertig auch der sogenannte zeitgenössische Teil der Sammlung vertreten, den Gernsheim ab Ende der 1960er Jahren zusammentrug. Letzteres Konvolut befindet sich seit 2002 zur weiteren wissenschaftlichen Aufarbeitung in den Reiss-Engelhorn Museeen .

Die Sammlung von Helmut (1913-1995) und Alison Gernsheim (1911-1969) bildet einen vertrauten Kanon ab. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn die publizierte Fotogeschichte verlässt sich immer noch in weiten Bereichen auf die wegweisenden Werke der Gernsheims und Beaumont Newhalls. Und dafür gibt es gute Gründe, auch wenn sich inzwischen der Blick auf die Geschichte der Fotografie etwas geweitet hat und Bereiche umfasst, die in diesen Standardwerken noch nicht verzeichnet sind.

 

Cover Buchhandelsausgabe des Ausstellungskatalogs

© Kehrer Verlag Heidelberg

 

Neue, überraschende Erkenntnisse sind demgemäß in dieser Ausstellung nicht zu erwarten. Entdeckungen, die einem neue Horizonte eröffnen, muss man anderswo machen. Trotzdem bereitet dieser Rundgang durch die Geschichte der Fotografie viel Spass und wird auch angesichts von 250 Exponaten nicht langweilig. Geordnet sind diese nicht chronologisch, sondern nach sieben Themenbereichen (Menschenbildnisse, Experimentelle und Inszenierte Fotografie, Stillleben, Tio-Gruppe, Bildjournalismus, Reise- und Ethnofotografie, Landschaft und urbaner Raum).

Zur Orientierung tragen auch die Kommentare Gernsheims bei, die sich neben vielen der Ausstellungsstücke befinden. In diesen kurzen Texten geht er oftmals sehr prägnant entweder auf die Fotografen oder das gezeigte Werk ein. Wer sich über die technischen Verfahren der frühen Fotografie informieren will, findet Infotafeln und ebenfalls entsprechende Vermerke bei den Bildbeschriftungen. Aber wer will, kann all die Texte natürlich auch ignorieren und sich ganz den Bildern widmen.

 

In verglasten Seitenkabinetten sind wenige frühe Bücher und Alben ausgestellt. So zum Beispiel John Thomsons „Street Life in London“ oder Arbeiten von Julia Margaret Cameron. Trotzdem ist die Ausstellung auf die Fotografien der Sammlung Gernsheim konzentriert. Die ebenfalls im Sammlungsbestand befindlichen fotografischen Apparate und Bücher spielen nur am Rande eine Rolle. Eigentlich fast schade für den insbesondere an Fotobüchern interessierten Besucher, wenn man zum Beispiel an Gernsheims Publikation "Incunabula of British Photography: Bibliography of British Photographic Literature 1839-75" denkt.

 

Hoher konservatorischer Aufwand

 

Die zur besseren Konservierung der Exponate relativ dunkel gehaltenen Räume erzeugen eine fast andächtige Stimmung. Die ausgestellten Salzpapierprints sind zusätzlich mit kleinen Samtvorhängen vor Licht geschützt, damit sie nur während der effektiven Betrachtungszeit durch die Besucher dem zerstörerischen Lichteinfall ausgesetzt sind. Noch wesentlich mehr Aufwand wird für die Aufnahme Niépces auf der ca 16,5 cm x 20,5 cm großen Zinnplatte getrieben. Eine durch das Getty Center in Los Angeles per Datenübertragung überwachte sauerstofffreie Atmosphäre mit Argongas schützt das von Niépce als „Heliographie“ bezeichnete Ausstellungsstück.

 

Weiterführende Literatur und Internetdokumente

 

Wer mehr über die Hintergründe dieser Fotografie Niépces und seine Biografie erfahren möchte, findet auf den Seiten der privaten Schweizer Photobibliothek.ch unter folgendem Link interessante Informationen : http://photobibliothek.ch/seite007ai.html . Auch auf der Website der Reiss-Engelhorn Museen lässt sich weiteres Material finden, u.a. Gespräche mit den Kuratoren der Ausstellung Stephanie Oeben und Claude W. Sui als Podcasts. Dort äussert sich Claude W. Sui zum Beispiel über die detektivische Suche der Gernsheims nach dem lange Jahre verschwundenen Bild Niépces.

Neben dem beim Kehrer Verlag erschienen Katalog zur Ausstellung, lässt sich natürlich auch in anderen Büchern etwas über die Ergebnisse der Arbeit der Gernsheims erfahren. Zum Beispiel in Helmut Gernsheims „History of Photography“ von 1955, auf die der hier abgebildete Sonderband der Propyläen Kunstgeschichte von 1983 zurückgeht.

 

Cover: Propyläen Kunstgeschichte Sonderband

 

Bereits zum 90. Geburtstag wurde in Mannheim eine große Ausstellung mit Werken aus der Sammlung Gernsheim veranstaltet. Unter dem Titel "Fokus Mensch. Menschenbilder aus der Fotosammlung Helmut Gernsheim" war diese vom 12.10.2003 bis zum 18.01.2004 in den Reiß-Engelhorn-Museen zu sehen. Zu dieser Ausstellung erschien damals bei Hatje Cantz ein ausführlicher Katalog unter dem Titel "Helmut Gernsheim. Pionier der Fotogeschichte". Dieser enthält neben der Abbildung von Fotografien aus der Sammlung und der Vorstellung der Fotografen auch einige Texte zur Arbeit Gernsheims. U.a. einen Beitrag von A.D.Coleman zu einem Symposium der European Society for the History of Photography. Unter dem folgenden Link finden Sie ein 88seitiges PDF-Dokument zu den Ergebnissen des Symposiums: http://www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/studium/kultur/zbw/eshph/symposien/eshph_mannheim2003.pdf

 

Cover: Helmut Gernsheim. Pionier der Fotogeschichte

 

 


 

 

Fakten:

 

Ausstellung:

 

 „Die Geburtsstunde der Fotografie – Meilensteine der Gernsheim-Collection“ im Forum für Internationale Photographie in den Reiss-Engelhorn Museen vom 09.09.2012 bis zum 24.02.2013

Website: http://www.rem-mannheim.de/ausstellungen/aktuelle-ausstellungen/geburtsstunde-der-fotografie.html

 

Katalog:

 

Alfried Wieczorek, Claude W. Sui (Hrsg.): „Die Geburtsstunde der Fotografie – Meilensteine der Gernsheim-Collection“, Heidelberg, 2012

Kehrer Verlag

ISBN: 978-3-86828-330-3 (Buchhandelsausgabe)

ISBN: 978-3-927774-45-2 (Museumsausgabe)

304 Seiten, 244 Abbildungen in S/W und Farbe, 30 cm x 24 cm