Ausstellung im Musée Nicéphore Niépce : face à ce qui se dérobe: les clichés de la folie

Die Ankündigung der Ausstellung im Musée Nicéphore Niépce hatte mich im Vorfeld schon neugierig gemacht. Die Vorab-Informationen im Internet versprachen einen ziemlich guten Überblick über den Gebrauch von Fotografien im Bereich der Psychiatrie. Und die Ausstellung, die ich jetzt zur Eröffnung persönlich anschauen konnte, löst diesen Anspruch umfassend und in ästhetisch anspruchsvoller Weise ein.

Ausgangspunkt für die Entstehung der Ausstellung war ein Konvolut von 25 Fotografien im Besitz des Museums, das von dem renommierten französischen Fotografen Robert Demachy (1859-1936) stammt. Entgegen den bekannten piktorialistischen Bildkompositionen, die man mit seinem Namen verbindet, handelt es sich hier um Fotografien, die als Glasdiapositive vorliegen. Sie zeigen dokumentarische Porträt- und Gruppenaufnahmen aus einem Innenhof des psychiatrischen Krankenhauses La Pitié-Salpetrière in Paris von ca 1895.

Diese Serie, genau wie eine etwas später entstandenen Folge von Fotografien von Charles Lhermitte (1881-1945), werfen bereits beispielhaft viele der Fragen auf, welchen die Ausstellung detailliert nachgeht. Fragen nach der Entstehungsgeschichte der Bilder und ihrer Verwendung; nach der Lebensgeschichte und den Schicksalen der Abgebildeten; nach der Legitimität der Veröffentlichung solcher Bilder; etc.

Die Ausstellung im Musée Niépce enthält ziemlich viel Text. Für Besucher, die kein Französisch sprechen, ist ein kleines Heft zur Ausstellung hilfreich, in dem einige davon ins Englische übersetzt sind. Die Texte sind neben den enthaltenen Informationen zur Entstehung der jeweils gezeigten Fotografien auch wichtig im Hinblick auf vielfältige Überlegungen zu ethischen Fragen, die sich beim Erstellen und Betrachten von Fotografien stellen, die oftmals ohne Einwilligung oder sogar gegen den Willen der Abgebildeten entstanden sind. Das wird ziemlich umfassend und in einer Weise erläutert, die manchmal mehr Fragen aufwirft, als eindeutig beantwortet. Aber gerade deswegen werden die vielfältigen Abwägungsprozesse eindrucksvoll verdeutlicht.

Der Gebrauch der Fotografie für Diagnostik, Behandlung, Dokumentation von Erfolgen und Misserfolgen, aber eben auch als Mittel zur Ausgrenzung von Betroffenen, zur Stigmatisierung und sensationsheischenden Ausstellung von Absonderlichkeiten wird sowohl visuell durch die ausgestellten Fotografien als auch in den begleitenden Texten immer wieder thematisiert. Selten habe ich eine Ausstellung gesehen, die auf so hohem theoretischen Niveau argumentiert und gleichzeitig emotional so mitreissend ist. Vielleicht hat das auch mit meiner Nähe zum Thema zu tun, aber ich denke es wird auch anderen Besuchern der Ausstellung so gehen, dass man sich dem Bann der Bilder nur schwer entziehen kann.

Neben überraschenden Entdeckungen wie den Fotografien Robert Demachys werden auch Positionen gezeigt, die in die Fotogeschichte eingegangen sind. Genannt seien hier nur Albert Londe (1884-1932) und Guillaume Duchenne de Boulogne (1806-1875). Die Vielfalt der Ausstellung zeigt sich aber auch in dem Bereich, in dem auf den therapeutischen Gebrauch von Fotografien eingegangen wird. Oder in der Präsentation von Reportagen aus Zeitschriften der 1930er Jahre.

Der journalistische Gebrauch der Fotografie im Bereich der Psychiatrie wird auch an Beispielen aus der Nachkriegszeit hinterfragt. Verschiedene klassische Reportagen von zum Beispiel Sabine Weiss (1924-2021), Jean-Philippe Charbonnier (1921-2004) oder Raymond Depardon (geb. 1942) dienen hier als Beispiele. Da ist zum einen die notwendige Sichtbarmachung der Verhältnisse, die teilweise auch mitverantwortlich für deren Veränderung war. Aber untrennbar damit verbunden ist zugleich die Frage, wie weit dafür in Hinblick auf das Recht am eigenen Bild und die Würde der Porträtierten gegangen werden darf.

Neben dem geschichtlichen Teil der Ausstellung, werden fotografische Positionen vorgestellt, die aus der Zusammenarbeit mit Betroffenen in psychiatrischen Einrichtungen entstanden sind. Die hier vorgestellten Projekte sind allesamt hochkarätige Beispiele für einen „anderen“ Entstehungsprozess des Bildmaterials, das in diesem Fall davon lebt, dass Betoffene nicht mehr vorgeführt werden, sondern in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fotograf*innen aktiv beteiligt sind. Am Eröffnungstag der Ausstellung kommentierten Marion Gronier, (geb. 1976), Maroussia Prignot (geb. 1981), Marc Pataut (geb. 1952) und Jean-Robert Dantou (geb. 1980) ihre Projekte während eines Rundgangs für alle Interessierten. Das verhalf zu interessanten Einblicken hinter die Kulissen der für die Ausstellung eindrucksvoll inszenierten Arbeiten.

Das ausgezeichnete Design der Ausstellung und die vielfältige Verwendung von Bild, Ton, Film und Projektion erleichtern bei aller Textlastigkeit den Zugang zum Thema und lassen auch einen ausführlichen Rundgang letztlich zu einer kurzweiligen Angelegenheit werden.

Die Ausstellung hat einen starken Fokus auf Frankreich, obwohl vereinzelt auch Bezug auf England oder Italien genommen wird. Das ist aber auch verständlich, da wahrscheinlich für die Frühzeit der Fotografie und den Beginn der modernen Psychiatrie Frankreich der wichtigsten Schauplatz ist und damit auch das reichhaltigste Material bieten dürfte.

Zugleich beschränkt sich die Ausstellung weitgehend auf den Bereich psychiatrischer Institutionen, was auch für die neueren Projekte unter der Beteiligung Betroffener gilt. Da wäre vielleicht ein Hinweis auf beispielhafte Arbeiten von Psychiatrieerfahrenen, die inzwischen in einer beeindruckenden Anzahl von Büchern dokumentiert sind, noch eine schöne Ergänzung gewesen. Aber angesichts dessen, was diese Ausstellung leistet, ist das ein eher vernachlässigbarer Kritikpunkt.

Sehr schade allerdings bleibt, dass es keinen umfassenden Katalog zur Dokumentation und erweiterten Darstellung dieser in zweijähriger Arbeit entstandenen Ausstellung gibt. Das kleine Begleitheft zur Ausstellung ist nützlich, kann aber eben nur einen sehr kleinen Teil des Gezeigten adäquat „speichern“ und reflektieren. Auch eine Übernahme der Ausstellung an andere Museen wäre natürlich wünschenswert. So aber wird diese möglicherweise nach drei Monaten (18.10.2025 bis zum 18.01.2026) abgebaut und bei einer überschaubaren Zahl von Besuchern nicht die verdiente längerfristige Beachtung finden können.

Link zum Museum Nicéphore Niépce mit Infomationen zur Ausstellung und etwas Bildmaterial:
https://www.museeniepce.com/index.php?/exposition/actuelles/Face-a-ce-qui-se-derobe-les-cliches-de-la-folie

Begleitpublikation:

face à ce qui se dérobe: les clichés de la folie
Chalon-sur-Saône 2025, Musée Nicéphore Niépce
ISBN 978-2-910244-15-6, geklammertes Heft
32 Seiten, 28 kleinformatige Abbildungen, 16 cm x 22 cm


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